Autogeschichten

Peace, Love und Krawalle in der Schweiz

Ende der 1960er-Jahre prallen weltweit die Generationen aufeinander – auch in der Schweiz. Die neue Freiheit transportieren die «Hippie-Büssli» und der Verkaufsschlager VW Käfer.

Als das Schweizer Fernsehen 2018 fünfzig Jahre zurückschaut auf das Jahr 1968, liegt das Konzept auf der Hand: «10 vor 10»-Moderatorin Andrea Vetsch fährt im VW-Bus durch die Schweiz, besucht geschichtsträchtige Orte und führt auf den Fahrten längere Gespräche mit Alt-68ern.

Nicht etwa der Pflasterstein, sondern der Hippie-Bus steht für den kolossalen Umbruch eines Jahres, nein: eines Jahrzehnts. Die 1960er-Jahre im Allgemeinen und das Jahr 1968 im Speziellen befreien die Welt und die Schweiz vom bürgerlichen Mief der Nachkriegszeit.

Kein Fahrzeug transportiert so viel Love, Peace und Happiness wie das unverwüstliche VW-Büssli. - SRF

Der Lieferwagen der Kleinunternehmer

Die AMAG liefert das Rollmaterial dazu. Für den grössten Schweizer Autoimporteur ist der VW-Bus in den 1960ern ein Bestseller, das einzige Nutzfahrzeug im stetig wachsenden Portfolio – aber mit vielen Aufbauvarianten.

Kleinunternehmer und Lieferdienste transportieren damit ihre Güter, Pöstler liefern Pakete aus, Kleinfamilien parkieren ihn im Urlaub auf dem Campingplatz. Es gibt ihn als Luxusbus, Wohnmobil, Pickup und Wagen mit Aufbau. Sogar Rennboliden lassen sich damit befördern.

Das erste Modell – der T1 – läuft im März 1950 in Wolfsburg vom Band. Der Absatz ist reissend, so dass Volkswagen die Produktion bereits 1956 in ein neues Werk nach Hannover verlegt. Tüftler bauen ihn um und aus.

Um die Vielfalt des Autos zu zeigen, organisieren die Verantwortlichen der AMAG 1958 eine Karawane durch die Schweiz, mit dabei jede einzelne Ausführung des Transporters.

Volkswagen-Generaldirektor Heinrich Nordhoff stellt 1949 in Wolfsburg das Konzept des VW-Bus vor. - Archiv AMAG
Die zweite Generation: Der VW T2 ist auch unter dem Spitznamen «Bulli» bekannt. Er kam 1967 auf den Markt - Interfoto/Keystone

Kurz bevor die Generationen aufeinanderprallen, bringt VW die zweite Generation des Busses auf den Markt. Das Modell 1968 – der T2 – gelangt im August 1967 in den Verkauf.

Die Karosserie ist nun etwas grösser, Panorama-Scheiben lösen die herkömmlichen geteilten Scheiben ab, die Ausstattung wird sicherer – und die Vielfalt bleibt

Bunter, schriller, lauter

Der VW-Bus verbreitet ein neues Lebensgefühl unter jungen Schweizerinnen und Schweizern. Sie sind überzeugt, die Welt verändern zu können, sie freier, bunter, schriller, lauter und gerechter zu gestalten.

Freude ersetzt Mief, Farbe das Graue. Die Frisuren, die Kleider, alles ändert sich, sieht anders aus, riecht anders – und tönt vor allem anders

Ist das die Geburtsstunde des Hippie-Bus? Der Verkaufschef der AMAG Bern liess seinen VW-Bus zum Wohnmobil umbauen und präsentierte das Ergebnis stolz 1954 in der Mitarbeiterzeitschrift Elan. - Archiv AMAG

 

«Me and Bobby McGee» ist eine der vielen Hymnen, eine Autostopper-Ode an die Freiheit, Janis Joplin machte sie berühmt. «Born To Be Wild» eine andere, dazu «Hey Jude» oder «Like a Rolling Stone».

Die Beatles, die Stones, die Doors, Simon & Garfunkel verzücken die Jugendlichen, die einen Plattenspieler besitzen.

Als beim Rolling-Stones-Konzert die Stühle brachen

Im gestuhlten Zürcher Hallenstadion gab es im April 1967 kein Halten mehr, als die Rolling Stones auftraten. Mitte der 1990er-Jahre widmete VW den Stones ein Golf-Sondermodell. - Blick

Lautstark gelangt der Beat am 14. April 1967 in die Schweiz. Die Rolling Stones aus London treten erstmals im Hallenstadion in Zürich-Oerlikon auf. Die «Neue Zürcher Zeitung» beschimpft das Konzert als «Höllenspektakel». Weil das Publikum es auf den Rängen nicht aushält, stehen viele auf, tanzen zum wilden Rock und lassen dabei Stühle in die Brüche gehen. 

«Völlig verstört» sei die Öffentlichkeit gewesen, weil sich die Jugend habe mitreissen lassen, notiert die «NZZ».

Am 12. August 1967 demonstrierten etwa 200 junge Frauen und Männer gegen das Minirock-Verbot im Zürcher «Literatencafé» Odeon. - Photopress-Archiv/Keystone
Ganz vorne fuhr ein VW-Bus mit: Hunderte junge Leute demonstrierten am 22. Juni 1968 in Genf gegen den Vietnam-Krieg. - Alain Gassman/Photopress-Archiv/Keystone

Dabei brodelt es, lange bevor die Stones kommen. In Vietnam ist Krieg. Die Pille hat die Sexualität befreit. Alles wird hinterfragt. Sind die Amerikaner wirklich die Guten und die Russen die Bösen? Wie steht es um die Dritte Welt, die Armen? Vor dem Schweizer Firmensitz des US-Konzerns Dow Chemical werden Vietcong-Puppen verbrannt – als Protest gegen den Hersteller des Kampfstoffs Napalm.

Endlich sollen die Frauen mitreden, wählen, abstimmen, ohne Einwilligung des Ehemanns arbeiten dürfen. Sie wollen sich verlieben und – ist die Liebe erloschen – die Männer wieder verlassen dürfen. Sie wollen neue Kleider tragen. Und dafür stehen sie auf.

Als im Sommer 1967 der Wirt des Zürcher Cafés Odeon eine Frau rauswirft, weil sie im Minirock einen Kaffee bestellt, fordern am Tag darauf Dutzende von Menschen mit Transparenten vor dem Odeon die Akzeptanz des Minis.

Mit dem Mini grenzen sich die Frauen ab, und die Männer lassen sich die Haare wachsen. Lange Haare werden zum Erkennungszeichen der Zeit. Zur Bewegung gehört, wer nicht mehr zum Coiffeur geht.

Alte und neue Schweiz

Im Wettbewerb zueinander stehen auch die alte und die neue Schweiz. Schriftsteller Peter Bichsel veröffentlichte 1969 «Des Schweizers Schweiz», ein Plädoyer für mehr Öffnung und gegen das, was als die «geistige Landesverteidigung» gilt.

Das Banale legt offen, wie sich die alte und neue Schweiz miteinander schwertun, etwa bei der Einführung der Barbie in den Spielzeugläden.

Mädchen lieben sie, weil sie anders ist als die Puppen ihrer Eltern. Die Frauenzeitschrift «Annabelle» hat die Zeichen der Zeit erkannt und beschreibt Barbie als «Sexbömbchen» ohne «moralischen Ballast».

Barbie sei promiskuitiv und konsumfreudig, genau wie der Zeitgeist. Beim behäbigen Schweizer Fernsehen wünscht man sich hingegen jene Puppen zurück, die man «wickeln und liebhaben» will.

«Sexbömbchen» Barbie, hier in Schweizer Tracht. - Steffen Schmidt/Keystone

Kein Nachtessen für Jimi Hendrix

Im Mai 1968 mischen die Studierenden in Paris ganz Frankreich auf. Sie kämpfen für mehr Mitsprache an der Universität. Das ganze Land gerät in Aufruhr, als sei eben die zweite französische Revolution ausgebrochen.

In der Schweiz beobachten die Jugendlichen genau, was in Frankreich passiert, und lassen sich mitreissen. Erneut wirkt die Musik wie ein Katalysator.

Jimi Hendrix bei seinem Konzert 1968 im Zürcher Hallenstadion. - Blick

Der amerikanische Rocker Jimi Hendrix gibt im Hallenstadion Ende Mai zwei Konzerte. Wieder gehen Stühle zu Bruch. Ausserhalb des Stadions entfachen Konzertbesucher ein Feuer, um sich zu wärmen und beieinanderzusitzen. Was die Polizei als Provokation versteht; sie geht mit Wasserwerfern und Gummischrot auf die Langhaarigen los. 

Am selben Abend will Jimi Hendrix in einem Zürcher Restaurant etwas essen. Angeblich wegen seiner Hautfarbe wird der schwarze Künstler nicht bedient.

Krawall um das Globus-Provisorium

Am 29. Juni 1968 entzündete sich der Zorn der Jugend bei den Zürcher Globus-Krawallen. - STR/Keystone

Zürcher Jugendliche verlangen vom Stadtrat ein autonomes Jugendzentrum, und zwar im Provisorium des Warenhauses Globus, das auf der Brücke neben dem Bahnhof errichtet worden ist. Die Stadt sperrt sich, die Jugendlichen wehren sich. Mit Flugblättern rufen sie am 29. Juni 1968 zu einer grossen Demonstration auf. Es ist eine heisse Sommernacht.

Zürich bebt, wie noch nie eine Schweizer Stadt gebebt hat. Es kommt zu gewalttätigen Ausschreitungen. Über tausend Menschen marschieren auf. Sie werfen Pflastersteine und Flaschen, reissen Telefonhörer aus den Kabinen und schleudern sie zusammen mit Blumentöpfen auf die Polizisten.

Der Verkehr steht still, alsbald spritzt die Polizei die Demonstranten mit Wasser ab und haut mit Knüppeln zu. Gegen fünfzig Personen erleiden Verletzungen, darunter Polizisten und Feuerwehrleute. Es kommt zu 170 Festnehmen und zahlreichen Prozessen.

Die Globus-Krawalle lösen eine landesweite Debatte aus. Zu gewalttätig sei die Zürcher Polizei vorgegangen, sagt die eine Seite. Da die Proteste von Kommunisten gesteuert gewesen seien, hätten sie um jeden Preis gestoppt werden sollen, meinen die Behörden.

Frauenstimmrecht und psychedelische Käfer

Das Jahr 1968 prägt andere Länder mehr als die Schweiz. Hierzulande entstehen neue linke Parteien, andere Wohnformen, Genossenschaften. Statt in Kleinfamilien wohnen jetzt viele in grossen Häusern.

Am nachhaltigsten ist die Frauenbewegung. Drei Jahre nach 1968 stimmen die Männer dem Stimm- und Wahlrecht für Frauen zu.

Schon am 1. Mai 1957 forderten Frauen in Zürich ihr Stimmrecht. Sie musste sich aber noch lange gedulden. - Photopress-Archiv/Keystone
Besucher verfolgen das Woodstock-Festival 1969 vom Dach eines VW-Busses. - AP Photo/Keystone

Im Mai 1969 nimmt die AMAG in Wolfsburg den 250’000. Käfer in Empfang. Im August des gleichen Jahres erreicht die Hippiebewegung in den USA mit dem Woodstock-Open-Air-Festival ihren Höhepunkt.

Dass der VW-Bus und der Käfer die prägenden Autos der 1968er-Bewegung sind, realisiert Volkswagen erst später und nutzt das in Werbespots.

Schon zu Beginn der 1970er-Jahre schreibt die AMAG einen Wettbewerb aus. Es gewinnt, wer den schönsten Käfer gestaltet. Einige der verzierten Autos sehen psychedelisch aus.

VW-Busse von der AMAG für Aliens? Für die Mitarbeiterzeitschrift Elan schien schon 1959 alles möglich. - Archiv AMAG

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